Mohamed und Claudia – eine Patenschaft
»Da bei Dir in Veltheim sitzt einer der Flüchtlinge ganz allein in der Pension – vielleicht schaust Du mal vorbei?« Mit dieser kurzen Frage beginnt die Geschichte von Mohamed und Claudia. Gestellt hatte die Frage Steffen, Sachbearbeiter der Samtgemeinde Sickte. Man ist per Du, denn hier in Braunschweigs Umland sind die Wege kurz und die Verwaltung sucht in jenem Frühsommer 2015 aktiv den Kontakt zu den Engagierten in den Dörfern. Es war eine plötzliche Aufgabe, die Anfang 2015 mit der Zuteilung von Geflüchteten begann. Und schon seit dem Beginn der Zufluchtswelle war die Unterstützung von »Paten« nicht mehr wegzudenken. Das Patenprogramm hat die Gemeinde initiiert und knüpft die Kontakte zwischen Einheimischen und Hinzukommenden.
Claudia ist eine dieser Paten. Ein Familienmensch, aktiv im Gemeinderat, in ihrer Freizeit tanzt sie Tango mit ihrem Mann, Bernhard. Ihr Haus liegt mitten im Dorf, sie haben es von seinen Eltern übernommen, ihre vier Kinder wuchsen und wachsen hier auf, die beiden ältesten sind gerade ausgezogen. Im Garten steht ein gemauerter Ofen, in dem Bernhard am Wochenende gern mal Brot für alle und die kommende Woche backt.
Vom Osten Afrikas nach Deutschland
Mohamed ist 16, als seine Mutter ihn aus Somalia, seiner Heimat, losschickt. Er soll nicht das Schicksal seiner älteren Brüder teilen, die als junge Soldaten zwangsrekrutiert wurden. Sie haben sie nicht mehr wiedergesehen. Fast zwei Jahre dauert sein Weg vom Osten Afrikas nach Deutschland. Mohamed hat die Armut und die Gesetzlosigkeit in Somalia erlebt, ismalistische Terroranschläge, Christenverfolgung, Piraterie. Dafür kennt man auch in Deutschland Somalia, das Land ist ein Schwerpunkt des Bundeswehreinsatzes in Afrika. (Siehe Wikipedia: Laufende Bundeswehr-Einsätze, Atalanta & EUTM Somalia)
Claudia geht also vorbei in der Pension in ihrem Dorf. Ein paar Mal, bis Mohamed endlich auf ihr Klopfen die Tür öffnet. Er rechnet nicht mit Besuch. Es ist Ramadan und der junge Moslem wartet auf den Sonnenuntergang, bis er wieder essen und trinken kann. In der Pension sind sie nicht wirklich auf so einen Gast eingestellt. Die Küche schließt am späten Abend, aber die Tage sind lang hell. Mohamed ist hier überhaupt nur gelandet, weil es kein freies Zimmer für einen Jugendlichen in den auf verschiedene Dörfer der Samtgemeinde verteilten Unterkünften gibt.
Mohamed spricht etwas Englisch. Claudia auch. Sie gehen spazieren, sie zeigt ihm das Haus, in dem sie wohnt, der große Familienhund kommt an den Gartenzaun und bellt. Ob er bleiben mag, bis er etwas essen und trinken kann, es sei genug im Haus? Der schüchterne junge Mann schüttelt den Kopf, Claudia gibt ihm etwas mit auf den Weg zurück.
Einfach nur ein weiterer Gast
So geht es einige Male, dann kommt er das erste Mal von alleine vorbei, lehnt sich über den Zaun, man wechselt ein paar Worte, der Hund will gestreichelt werden, es gibt etwas Essen mit auf den Weg. Irgendwann sitzt er doch das erste Mal in der offenen Diele und Küche, mit der Familie am Abendbrottisch.
»Dass im Sommer immer jemand von uns im Garten ist und Mohamed nicht klingeln oder sogar in ein fremdes Haus gehen musste, um jemanden zu sehen und zu sprechen, das war das Hilfreichste, um überhaupt in Kontakt zu kommen.« – Claudia
Er kommt immer öfter. Manchmal reden sie ein bisschen. Alle im Haus sind es gewohnt, dass ständig irgendwelche Freunde der Kinder oder der Eltern im Haus auftauchen und mit am Tisch sitzen. Mohamed ist einfach nur ein weiterer Gast. Er genießt dieselbe Selbstverständlichkeit, wie alle anderen auch. Eines Tages dann greift er zum Schulatlas des jüngsten Sohns. Er blättert, sucht, dann findet er und zeigt: Dort liegt Somalia. Zögernd beschreibt sein Finger eine Route bis ans Mittelmeer.
»Von da an hat er immer ein bisschen mehr erzählt, von sich. Ich hab es erst nicht gemerkt, aber dann fiel mir auf, dass er uns dabei immer aufmerksam beobachtet hat. Er wollte wohl sehen, wie viel wir vertragen.« – Claudia
Der Sommer zieht ins Land, die »Flüchtlingswelle« ist täglich in den Medien, Menschen aus den Kriegs- und Krisengebieten des Nahen und Mittleren Ostens sind in großer Zahl unterwegs und kommen in Europas Südwesten an. Viel mehr, als aus den verschiedenen Regionen in Afrikas Osten, Westen und Norden.
Den Landkreis zu verlassen, ist ein Verstoß gegen die Regeln
»Flüchtlingswelle« wirkt wie ein zynisches Wort, als Mohamed vorsichtig von seinem Weg über das Mittelmeer erzählt. Das Boot kentert. Er ist einer der wenigen Menschen, die überleben. Zurück in Libyen muss er für seine versuchte Überfahrt ins Gefängnis. Dort ist es nicht gut, gar nicht gut, aber er wird auch das überleben. Dagegen ist die deutsche Bürokratie ein echtes Kinderspiel. Wenn es nur nicht so kompliziert wäre. Und die Menge der Anträge verlängert die Bearbeitungszeiten.
Während sich Mohamed immer öfter bei der Familie aufhält, wird sein Asylverfahren erstmal darauf geprüft, ob der Antrag überhaupt gestellt werden kann. Das europäische Dublin-III-Verfahren sieht vor, dass Einreisende aus »sicheren Drittstaaten« dort ihren Antrag zu stellen haben und nicht in Deutschland. Zwischen dem Mittelmeer und Deutschland liegen mehrere Länder. Ohne Start des richtigen Asylverfahrens heißt es aber: kein Deutschkurs, ohne Deutschkurs keine weiteren Möglichkeiten.
Claudia fängt an, bei ihren Tangofreunden in Braunschweig von der Situation zu erzählen und dass sie ihm einen Deutschkurs aus eigener Tasche finanzieren werden. Es ist inzwischen Dezember und einige Bekannte beteiligen sich spontan an den Kosten dafür. Die Sondergenehmigung für Mohameds tägliche Fahrten nach Braunschweig – denn die Residenzpflicht bedeutet auch: den Landkreis zu verlassen, ist ein Verstoß gegen die Regeln – stößt sie bei einer Chorprobe an. Dort singt Claudia gemeinsam mit einer Sachbearbeiterin der Gemeinde und kann in Erfahrung bringen, welche Anträge und Wege möglich sind.
»Die ganzen Formalitäten und Verordnungen sind unglaublich! Nichtmal als Muttersprachlerin ist das ohne Erklärungen oder Unterstützung und nur mit viel Aufwand zu schaffen. Wie sollen das Menschen selbständig erledigen, die eine so detailliert strukturierte Verwaltung gar nicht kennen? Und die es gewohnt sind, sich durchzuschlagen, eigene Wege zu finden…? Sie verstehen nicht, dass eine ›selbstgemachte Lösung‹ eine Gefahr für das Asylverfahren sein kann, weil es gegen die Formalitäten verstößt.« – Claudia
Der Deutsch-Kurs – konzipiert für Zuwandernde aus der ganzen Welt
Mohamed feiert Weihnachten mit der Familie. Der junge Moslem bekommt den Intensiv-Kurs Deutsch geschenkt. Aus dem Patenprogramm und weiteren dörflichen Initiativen entsteht in den Wochen davor der Verein miteinanderBUNT. Ein Trägerverein der Engagierten in der Samtgemeinde. Die Geschichte könnte hier ihr Happy-Ende haben. Aber so einfach ist Ankommen und Integration nicht: ein Kurs, ein Verein, von hier an lebten sie glücklich bis an das Ende ihrer Tage…?
Der Deutsch-Kurs ist für Zuwandernde aus der ganzen Welt konzipiert. Dort werden indische Programmiererinnen ebenso unterrichtet, wie polnische Ingenieure oder australische Pflegekräfte. Im Großen und Ganzen also Menschen, die bereits in einem Schulsystem unterrichtet worden sind, die Lerntechniken kennen und für die Deutsch einfach nur eine neue Fremdsprache ist. Mohamed kann sich im Unterricht nur schwer orientieren: Was ist wichtig? Was ist nur eine Randbemerkung? Was soll er mitschreiben, wann zuhören? Vokabeln. Grammatik. Karteikarten für das Lernen…
Schnell merken Claudia und Bernhard, dass Mohamed nicht mehr so fröhlich vom Unterricht zurückkommt, wie es am Anfang war. Er wirkt wieder stiller, verschlossener. Es ist völlig unklar, woran das liegt. Gibt es Probleme mit Lehrer.inne.n? Mit Mitschülern? Im Bus? Sie sprechen mit einer Lehrerin. Die sagt: »Mohamed wird den Kurs nicht schaffen, er kommt nicht mit.« Bernhard nimmt sich ab jetzt einmal in der Woche Zeit und lernt zu Hause, in der großen Küche, mit Mohamed den Stoff der laufenden Woche. Sie üben: Hefte führen, Vokabeln lernen, auch scheinbar einfache Dinge, wie Zettel mit den schwierigsten Worten ausschneiden und an die Tür zum Nachbarzimmer kleben, damit sie öfter wiederholt und gelernt werden können, quasi im Vorbeigehen.
»Viele hier in Deutschland denken, dass etwas Unterricht und ein Praktikumsplatz ausreichen und wer das nicht schafft, der oder die hat halt nicht genug gewollt. Dabei sind die Lebensbedingungen in Kindheit und Jugend so fundamental unterschiedlich! So vieles, was hier selbstverständlich ist und ab dem Kindergartenalter an Wissen und Kompetenzen weitergegeben wird, bringen Zufluchtsuchende aus Ländern wie Eritrea gar nicht mit. Wir könnten mit unseren Lernzetteln und Vokabeltests auch nicht von Null auf Hundert in einem afrikanischen Dorf durchstarten. Uns würde Knowhow und Können an ganz anderer Stelle fehlen.« – Claudia
Europäische und ostafrikanische Normen
Claudia lernt viel in dieser Zeit mit Mohamed. Über die Lebenswelt in Somalia, über den jungen Mann und über Deutschland. Über Fluchtwege, Widrigkeiten, Gefahren und glückliche Zufälle. Über den Culture Clash europäischer und ostafrikanischer Normen, Gewohnheiten und Umgangsformen. Was irgendwie keine Rolle spielt, sind die verschiedenen Religionen. Seinen zweiten Ramadan in Deutschland verbringt Mohamed im Haus der Familie – er wohnt hier inzwischen ganz offiziell. Und Claudia ist mittlerweile die erste Vereinsvorsitzende von miteinanderBUNT e.V., die Sitzungen des Vorstands finden meist bei ihr statt.
Es wird debattiert, entschieden, einander geholfen, draußen wird geworben und viel gemacht. Alle Vorstände sind an den verschiedensten Stellen selbst aktiv und bringen ihre ganz persönlichen Erfahrungen in Sachen einander Kennenlernen & Integration mit. Für Claudia ist es ein fortlaufendes Engagement.
»Wir hatten ja etwas Platz im Haus, nachdem die beiden großen Kinder ausgezogen waren und ich hab mir Zeit genommen, indem ich an anderer Stelle Ehrenämter weitergab. Ich bin trotzdem an meine Grenzen gekommen, das muss ich ehrlich sagen. Die Patenschaft war nicht nur eine organisatorische Aufgabe. Sie hat mich ganz oft auch im Herzen berührt.« – Claudia
Mohamed besteht den Deutschkurs. Sie feiern. Ebenso, als endlich die Aufenthaltsgestattung kommt. Damit ist Mohamed endlich raus aus dem Dublin-III-Verfahren. Große Erleichterung. Nun kann Mohamed ein berufsvorbereitendes Praktikum starten. Das Asylverfahren selbst läuft noch.
Januar 2019
Inzwischen ist das Asylverfahren abgeschlossen. Mohamed ist als Flüchtling nach dem Genfer Konventionen anerkannt worden. Er absolviert eine Ausbildung als Facharbeiter für Lagerlogistik bei der Firma EWE Armaturen und lebt in einer WG in Braunschweig. Er besucht Claudia und Bernhard an den Wochenenden und ist bei jedem Familienfest dabei.
Januar 2020
Mohammed hat die zweijährige Ausbildung zum Fachlageristen erfolgreich abgeschlossen. Er wurde von seinem Ausbildungsbetrieb übernommen. Er sagt, dass er die Ausbildung nicht geschafft hätte, wenn er nicht so viel Unterstützung bekommen hätte. Nicht nur von Claudia und Bernhard, sondern auch von Nachhilfelehrerinnen bei der „assistierten Ausbildung“, seinem Betrieb, der sogar zeitweilig eine interkulturelle Trainerin engagiert hatte und vielen anderen Menschen, die immer an ihn geglaubt haben.
Sein nächstes Ziel ist der Führerschein, und in einem Jahr möchte er dann eine unbefristete Niederlassungserlaubnis beantragen.
Du schaffst das Mohammed!
Weitere Informationen
- Somaliland: Flucht aus einem Staat, den es nicht gibt
Deutsche Welle, 15.12.2015 - Flüchtlingsbürokratie: In Europa angekommen – und dann?
So funktioniert die Dublin-Verordnung, Spiegel Online, 22.04.2015 - Vereinte Nationen warnen vor bis zu 20 Millionen Hungertoten
Über die Lage im Jemen, dem Südsudan, Somalia und Nigeria, Zeit Online, 17.03.2017